Wenn Worte verletzen – und Gruppen wegschauen
- Caroline Schwander

- 24. Nov.
- 3 Min. Lesezeit

Ich gehe nicht, weil ich aufgebe – ich gehe, weil ich mich achte.
Es sind manchmal nicht die lautesten Ereignisse, die den grössten Schmerz verursachen, sondern jene, die im Stillen geschehen – dann, wenn ein Mensch sich öffnet und darauf vertraut, geschützt zu sein.
Diese Geschichte handelt von Andrea, die sich in einem Verein nach anfänglichen Schwierigkeiten engagierte, integrierte und zunehmend fühlte, dass sie wirklich dazugehört. Sie investierte Zeit, Energie, Überzeugung und Herzblut. Doch ein einziger Moment der Verletzlichkeit reichte aus, um dieses Gefühl der Zugehörigkeit zu zerstören.
Ein Gespräch, das heilen sollte – und verletzte
Andrea war nach einer emotional belastenden Woche erschöpft und trank mehr als üblich. In einem persönlichen Gespräch mit Salome sprach sie über Themen, die sie bereits früher gegenüber dem Verein offengelegt hatte – damals in ihrer Anfangszeit, als vieles noch neu und schwierig war. Sie hatte nicht das Gefühl, zu lästern – sie versuchte, sich mitzuteilen und Vergangenes nochmals zu reflektieren.
Sie fühlte sich verstanden und sagte am nächsten Tag sogar zu ihrem Partner:
«Ich habe endlich mal ein gutes, echtes Gespräch geführt.»
Doch während Andrea hoffte, gehört worden zu sein, zeichnete sich im Hintergrund eine andere Dynamik ab.
Was am Glühweinstand geschah
Am darauffolgenden Tag sprach Salome – ohne Andrea – mit anderen Mitgliedern über dieses Gespräch. Es wurden Aussagen weitergegeben, interpretiert und bewertet.
🔸 Kein Mitglied suchte das Gespräch mit Andrea.
🔸 Stattdessen bildeten einige Anwesende am Glühweinstand ein Bild über sie.
🔸 Die Meinung über Andrea stand fest, bevor sie überhaupt dazu Stellung nehmen konnte.
Alle, die dabei waren, übernahmen durch ihr Schweigen und Nicht-Nachfragen Mitverantwortung.
Der Moment der öffentlichen Konfrontation
Einige Tage später wurde Andrea vor der gesamten Gruppe mit dem Thema konfrontiert. Sie war überrascht, emotional unvorbereitet und durch die Erinnerungslücke im Nachteil.
🔸 Niemand griff ein.
🔸 Niemand stoppte die Situation.
🔸 Niemand stellte sich schützend vor sie.
Aus Sicht von Andrea überschritt dieser Moment eine persönliche Grenze. Was sie als vertrauliches Gespräch erlebt hatte, wurde öffentlich gemacht – ohne ihr Wissen, ohne Einverständnis und ohne Möglichkeit zur Erklärung.
Warum in solchen Momenten nicht mehr zugehört wird
Ein psychologischer Blick zeigt, wie Gruppen in solchen Situationen funktionieren:
Psychologischer Mechanismus | Wirkung |
Bestätigungsfehler | Man hört nur noch das, was die bereits gebildete Meinung stützt |
Gruppendynamik | Man schliesst sich der Mehrheit an, um nicht selber in die Kritik zu geraten |
Moralische Positionierung | «Wir schützen die Gruppe vor der Störung» |
Schutz durch Distanz | Wer schweigt, glaubt sich auf der sicheren Seite |
Wenn das Bild über einen Menschen bereits feststeht, hört man nicht mehr zu, um zu verstehen – sondern um sich bestätigt zu fühlen.
Folgen für die betroffene Person
Andrea reagierte im Moment der Konfrontation mit innerem Stillstand – einem typischen Freeze-Mechanismus, der in Überforderungssituationen auftritt. Erst Tage später, nachdem der Schock sich löste, konnte sie den Schmerz wirklich fühlen.
«Ich war verletzlich – und genau dort hat man mich getroffen.»
Warum Andrea die Gruppe verlassen musste – und warum es kein Zurück mehr gibt
Andrea verlässt die Gruppe nicht aus Trotz oder mangelnder Bereitschaft zur Klärung.
Im Gegenteil: Sie hatte sich während ihrer gesamten Zeit im Verein stets bemüht, sich anzupassen und mitzutragen. Trotz eines schwierigen Einstiegs – bei dem die Verantwortung nicht ausschliesslich bei ihr lag, da Absprachen, die direkt mit ihr getroffen wurden, nicht konsequent innerhalb des Vereins geteilt wurden – erkannte sie ihren Anteil und übernahm Verantwortung.
Sie passte sich an, zeigte Engagement und glaubte zunehmend, endlich wirklich Teil der Gemeinschaft zu sein. Sie fühlte sich wohl, integriert und angekommen.
Doch bereits damals wurde über sie gesprochen, nicht mit ihr. Meinungen wurden gebildet, ohne sie einzubeziehen – ein Muster, das sich später wiederholte und schliesslich eskalierte.
Vertrauen wurde gebrochen
«Wenn ich schwach bin, bin ich hier nicht sicher.»
Ohne das Gefühl von Sicherheit gibt es keine Zugehörigkeit.
Die Meinung war bereits gemacht
Am Glühweinstand wurde das Bild über Andrea formiert. Wer sich einmal innerlich abgewandt hat, hört nicht mehr mit offenem Herzen zu.
Keine echte Wiedergutmachung
Eine Rückkehr wäre nur möglich gewesen, wenn Fehler anerkannt und Verantwortung übernommen worden wären. Dies geschah nicht.
Keine faire Möglichkeit zur Klärung
Andrea weiss nicht genau, was sie in diesem Gespräch sagte. Salome jedoch hätte die Macht, Aussagen zu interpretieren. Eine erneute Diskussion würde die ungleiche Ausgangslage reproduzieren.
Selbstschutz ist kein Rückzug – sondern Selbstachtung
«Ich gehe nicht, weil ich aufgebe. Ich gehe, weil ich mich achte.»
Fazit
🔹 Verletzlichkeit braucht Schutz, nicht Verwertung.
🔹 Konfliktklärung ist kein öffentlicher Akt.
🔹 Nicht einzuschreiten bedeutet, Verantwortung zu tragen.
🔹 Harmonie zeigt sich nicht im Schweigen – sondern im Mut, hinzusehen.
🔹 Manchmal ist Gehen kein Zeichen von Schwäche, sondern von Reife.
«Wer sich selbst schützt, verliert nicht – er bleibt sich treu.»
Wenn du ähnliche Erfahrungen gemacht hast oder dich in solchen Dynamiken wiedererkennst, bin ich da.
Manchmal braucht es den richtigen Raum, um wieder Boden unter den Füssen zu finden.
Caroline Schwander
Praxis Bernstein







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